Der Tag erwacht Stück für Stück

Noch ist es früh. Die Sonne kriecht ganz langsam am Horizont hoch. Ihre Strahlen werden noch von Bäumen und Sträuchern unterbrochen, setzen dafür vielfältige Naturerscheinungen ins rechte Licht. Im Korkenzieherhaselnuss glitzert ein Edelstein, der an seiner Leine hängend sich sachte wiegen lässt und durch die wandernde Sonne unentwegt ein neues Kleid erhält. Er blinkt im Sonnenlicht und zieht meine Augen förmlich an. Grashalme recken ihre Köpfe nach oben trotzdem sie voller Regentropfen hängen. Sie genießen noch den Tau, denn brennende Hitze wird ihnen noch stundenlang zu schaffen machen. Es scheint ein schöner sehr warmer Tag zu werden. Die himmlische Ruhe wird nur durch das Kra kra oder das Gurren der Tauben unterbrochen. Wie gewohnt trinke ich meinen Cappuccino und sauge gleichzeitig den erwachenden Tag in mir auf. Meine Blicke richten sich in die Runde.

Mücken drehen schon in der Frühe ihre Kreise. Hummeln und Bienenwolf laben sich am Nektar der Malvenblüten in Blau und Rosè. Einen müdem Eindruck macht eine Blüte des Löwenmäulchens und fällt zu Boden. Die Blüte erschlafft nach und nach im heißen Wärmestrahl.

Großer Fuchs umgarnt mich, lässt sich aus der Nähe betrachten, denn er setzt sich neben meine Tasse, flattert nur einige Zentimeter weiter und präsentiert sich in aller Schönheit.

Die Sonnenblume richtet ihr Haupt zur Sonne.

Die Ruhe ist ein Genuss. Meine Augen können sich nicht satt sehen - und das allmorgendlich. Langweilig nein, es gibt immer wieder neue Betrachtungen. Man muss es nur sehen und wollen.

Die Weite, die Silhouette unterschiedlichster Laubgewächse verschiedene Geräusche der Vögel. Das Eichhörnchen präsentiert sich heute, gestern blieb es fern. Mal nimmt ein ganzer Hümpel Piepmätze gemeinsam ein Bad, ein andermal hat das Gartenrotschwänzchen die Schale für sich. Klappernd und wippend genießt es die Alleinherrschaft. Wenn ich gestern noch die ersten Flugversuche der Jungschwalben beobachten konnte, drehen sie heute schon aufgeregt größere Runden. Kein Morgen ist gleich, niemals langweilig. Die Natur bietet Großartiges.

 

Mein Garten ist eine Bereicherung meines Lebens - ein buntes Geschenk - und Inspiration. Ich such kein Ideal, sondern lediglich Vielfalt und Heimat für vielfältige Geschöpfe der Natur.

 

Wenn der Pullover der Pappel zu groß ist

Krähen, aber auch Wildtauben ruhen sich gern auf den Zweigen einer Pappelkolonie aus. Seit Jahren ist es gut zu beobachten. Ein tolles Schauspiel, wenn ein Schwarm der Schwarzgefiederten plötzlich gemeinsam startet und den Himmel mit einem Muster versetzt. Neugierig trampelt eines dieser Vögel auf das noch recht kleine Gewächs herum. Eine Kugel ist noch nicht richtig erkennbar. Die in der Wintersonne leuchtenden weißen Beeren werden zerdrückt. Die zähen Schleimfäden kleben an den Füßen des Vogels. Der Schnabel zerrt an der Masse. Das ist dem Vogeltier eine Lehre. Nie wieder muss es diese Untersuchung anstellen. Aber ein einziger reifer Samen mit der Samenhülle fällt in die Tiefe und bleibt durch seine Aktion in einer Astgabel hängen. Das Körnchen klebt regelrecht fest. Der schon von Flechten besiedelte Zweig erhält Zuwachs. In den Flechtschuppen findet der Samen optimale Entwicklungsbedingungen, Halt und gleichmäßige Feuchtigkeit.

Nach zwei Jahren zeigt sich der erste Trieb. Und wieder beginnt ein zauberhaftes Knäul sich zu entfalten. Die gelbgrünen Blätter blinken im Sonnenlicht. Pro Jahr bilden Misteln aus einer Triebspitze nur ein Stängelpaar mit jeweils zwei Blättern. Bis

die Krone des Baumes voller Misteln diesen im Winter ganz besonders schmücken kann, dauert es demnach viele Jahre. Und sie wachsen bis ihr Gastbaum selber eingeht und können dabei hundert Jahre alt werden.

 

Als Naturliebhaber beobachte ich das Naturwunder „Mistel“ und mache die kleinen Mädchen, Laura und Hannah, darauf aufmerksam. Die sechsjährige Laura stützt ihre Hände in die Seite, wirft ihren Kopf keck in den Nacken, schaut eine Zeit drein, ehe sie voller Stolz heraus posaunt:

„Oma, die Bäume haben einen Pullover angezogen!“

Ich schaue mit anderen Augen nach oben und lasse den Satz des Kindes durch die Kronen wandern.

„Ja richtig, jetzt im Winter so ohne Blätter wirken die Pappeln wie in einem Selbstgestrickten gehüllt. Sie erscheinen nicht so nackt und sind mit ihrem schimmernden gelbgrün wunderschön anzusehen.“

Wir gehen etwas dichter heran und versuchen die Naturbälle genauer zu betrachten. Ich versuche bei den Mädels ein Interesse für die Landschaft zu wecken und erkläre:

Die Misteln sind keine Donnerbüsche oder Hexenbesen, sondern besitzen sogar Heilkräfte und werden in der Medizin verwendet. Viele Menschen glauben, dass von ihnen eine „Wunderkraft“ ausgeht. So soll ein Mistelstängel einem jungen Paar Glück bringen. Als weihnachtliche Dekoration ist die Mistel auch in unserem Land schon sehr viel länger als der Weihnachtsbaum bekannt. Die Mistelrispen werden dekorativ mit einem Band an Decken und Türrahmen befestigt und schenken der Zeit ein besonderes Flair. Der Weihnachtsbrauch besagt: Küssen sich zwei Menschen unter solch einem Zweig, werden sie ein glückliches Paar.

Lautes Gekicher bei den beiden Kleinen.

„Naja, irgendwann küsst ihr vielleicht auch euren Liebsten unter einem derlei wunderschönen Mistelspross“ ergänze ich. Mit leuchtenden Augen verkündet Hannah ihre Idee. Scheinbar hat sie das Bild vor Augen.

„Können wir für Mama und Papa eine Mistel für Weihnachten pflücken?“

„Da müssen wir Misteln suchen, die wir erreichen können. Bei diesen hohen Bäumen ist es nicht möglich. Oma ist schließlich kein Affe und kann hier keine abschneiden. Aber dein Einfall ist großartig.“

Ein Jahr später wird diese Baumgruppe massiv verkleinert. Die immergrünen Schmarotzer siegten, laugten deren Lebenssaft vollkommen aus, sodass die Pappeln gefällt werden mussten. Der Pullover der Pappeln war zu groß geworden.

Immer wenn ich Misteln in Bäumen hängen sehe, denke ich sofort an den Pullover und bin auch nach Jahren von dieser Sichtweise des Kindes fasziniert.

(Herbst 2013)

Am Arsch der Welt

„Was willst du dort am Arsch der Welt? Da brauchst du dich nicht zu wundern, dass dich niemand besucht. Genau deswegen musst du eben alleine sitzen!“

Harte Worte, die mir häufiger um die Ohren flogen.

 

Verheerende Menschenströme, Büro- und Appartementhäuser, Hochhäuser - ein Bauwerk neben dem anderen. Reklame über Reklame. Motorenlärm und Motorengestank. In eine Stadt mit seinen vielfältigen Beton- oder Glasriesen ziehen – nein. Ein ganz deutliches nein schreie ich in alle Himmelsrichtungen!

 

Parzellierte Kulturlandschaften wie ich sie noch zu meiner frühsten Kinderzeit kannte, sind leider fast überall verschwunden. Hecken, Baumgruppen wurden für die

Großfelderwirtschaft geopfert. Und trotzdem bin ich zurück in diesen dünn besiedelten Landstrich – irgendwie wirklich am Arsch der Welt.

 

Am Arsch der Welt, weil sämtliche Schlachter und Bäcker wegen mangelndem Umsatz aufgaben, jeder noch so kleine Krämerladen seine Kundschaft verlor, Bus- und Zugverbindungen eingestellt wurden.

Arbeitsplätze! Was ist das?

Alles muss sich in einer sozialen Marktwirtschaft rechnen. Marktwirtschaftlich vermutlich richtig, aber sozial erscheinen mir sämtliche Schließungen nicht. Immer mehr abgehängt werden jene Personen, die ihren jahrzehntelangen Lebensraum keineswegs verlassen möchten.

Abgeschieden vom pulsierenden Leben hält die Landbevölkerung in ihrem oft angestammten Areal aus. Doch besonders kleine Besiedlungen leiden unter dem Bevölkerungsschwund. Werden sie einem Schleifen entkommen? Mancher Politiker an den wichtigen Schaltstellen möge denken, dass die Natur es schon regeln wird. Spätestens dann erinnert er sich der Natur, aber zumeist lediglich in jenem Zusammenhang.

 

Mein Anwesen liegt idyllisch am Waldrand auf sandigen, mageren Boden. Die vom Wind erzeugten Melodien höre ich nicht nur, sondern gebe ihm neue mit.

Kleine und große Wunder erlebe ich genau hier – am Arsch der Welt – jeden Tag erneut.

Auf der Ackerfläche hinter meinem Hof wächst eine magere Bienenweide, die auch den Rehen Nahrung verschafft. In den frühen Morgenstunden bietet sich mir ein zauberhaftes Schauspiel. Rehe flitzen kreuz und quer. Ist wieder ein Hund hinter ihnen her. Nein. Dass es zwei Kitze sind, merke ich, als die Ricke zum Vorschein kommt. Mal spielen die Zwillinge Greif, dann laufen sie Tandem. Ihren Übermut spüre ich bei der Betrachtung. Mutter Ricke grast derweil, schaut zwischendurch auf und beobachtet ihren Nachwuchs.

Landleben entspannt. Es gibt keinen Stau. Hetzende, durch die Straßen eilende Erdenbürger begegnen mir nicht. Stattdessen bunte Vorgärten, Vogelgezwitscher, unzählige schwebende Blätter. Fantastisches Blätterrauschen verschiedener Laubbäume erzeugt immer wieder schwungvolle Weisen.

In der Pfütze spiegelt sich der Himmel.

Ich treffe nicht nur Fremde des Weges.

Ehrenamtlich organisierte Kulturveranstaltungen ähneln Familienfesten.

Die Hilfe durch Nachbarn ist eher gewiss.

In jenen einsamen Weiten fühle ich mich gut aufgehoben. Für das Gros der Menschheit vielleicht zu einsam. Aber einsam bedeutet nicht gleich eintönig. Man muss die Augen nur offen halten. Die Tier- und Pflanzenwelt ist immer für eine Überraschung gut.

Ob eine Meise, oder Rotkehlchen, eine Finken- oder Amselschar in meinen Beeten spaziert, sie sich im Geäst meiner Sträucher verkriechen, bilden sie eine lebendige Flora und Fauna, sind wichtig und bedeutungsvoll für mein Gleichgewicht, erheitert die Seele, spielt Frohsinn in mein Gesicht. Ich freue mich über die flatternden Piepmätze in frühen Morgenstunden, ergötze mich ihrem Gezänk, bewundere Schnäbeleien in der Luft, verfolge die Entwicklung einer neuen Generation von Befruchtung bis zu ersten Flugversuchen.

Zähne putzend drehe ich mich vorm Fenster und mache meine Beobachtung.

Wenn das Eichhörnchen nur wenige Meter von mir entfernt ganz gelassen auf der Sandkiste sitzt und Nüsse knackt, ist das Natur pur. Die Wiese voller blühender

Butterblumen ist ein Augenschmaus. In späten Abendstunden konkurrieren gelbe Leuchtflecke von Nacht- und Königkerzen mit den Sternen am Himmelszelt. Ich höre gern den Regen prasseln.

Großstädter lernen jene Schönheiten nie nich kennen. Es sei denn, sie nehmen es sich während Auszeiten ganz bewusst vor.

 

Hetze und Zeitdruck bestimmen den Tag für Millionen von Bürgern.

Ob Alt oder Jung - viele befinden sich in einer ständigen Überforderungssituation und Reizüberflutung. Der moderne Mensch hat es durch Internet & Co verlernt „abzuschalten“. Unentwegt aktuell sein, klaut unbeschreiblich viel Zeit!

Ob Frau oder Mann - jeder braucht Ruhephasen und sollte sich bewusst eigene Inseln schaffen. In Ruhe kann man Gefühle wahrnehmen. Zeit können wir nicht schmecken aber genießen lernen.

Wenn Erschöpfungszustände oder leibliche Erkrankungen entstehen, ist es Ausdruck eines Ungleichgewichts des seelischen Befindens. Die zuvor eher leisen Signale werden entweder überhört oder verdrängt – das ist eine Gefahr. Negative Belastungen für den Menschen sind in Großstädten weitaus höher.

 

Das Landleben ermöglicht bessere, vor allem mehr Rückzugsmöglichkeiten, wodurch Sinne entlastet werden. Alltäglich werde ich mit Farben, Düften, Geräuschen und Gesängen verwöhnt.

Meine Flatterfreunde verabschieden sich abends von mir mit fröhlichem Geplärr und begrüßen mich morgens mit einem Zwitscher-Konzert. Nicht selten flattert ein Schwälbchen durchs weit geöffnete Fenster, dreht eine Runde über meinem Bett, um mich zum Aufstehen zu mahnen.

 

Ich lebe gern hier am Arsch der Welt!